Aus dem Achimer Kreisblatt vom 3. April 2008:

Infrastruktur oft wichtiger als Strafe
Vortrag von Joachim Woock im Hotel Gieschen zur "Entnazifizierung" / Neun Internierungslager der Briten

ACHIM (cwa) . Der Krieg war für Nazi-Deutschland verloren, die Alliierten wollten nach 1945 eine Demokratie aufbauen und brauchten neben Rohstoffen und Infrastruktur auch Personal. Die US-und die Royal Army begannen zur Rekrutierung dieses Personals für eine demokratische Grundstruktur des "neuen Deutschland" mit der so genannten Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft.
Zur Entnazifizierung im Nordkreis hielt am Dienstagabend der Pädagoge Dr. Joachim Woock einen Vortrag im Hotel Gieschen. Die Geschichtswerkstatt Achim hatte die Öffentlichkeit zu diesem Themenabend samt Vortrag, Ausstellung und Diskussion eingeladen, rund 30 Besucher nahmen teil.
Nach der Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945, so Woock in seinem Überblick, und dem Verbot der NSDAP im Oktober, mussten Nazis aus Schlüsselpositionen entfernt werden.
Danach legten die Briten den Schwerpunkt der Maßnahmen auf die Umerziehung von Nazis in Internierungslagern. Davon existierten in der britischen Zone neun, das für unsere Region bedeutendste war Sandbostel bei Bremervörde. Das Lagerleben an sich war anfangs sehr unmenschlich, allein 1946 verhungerten in der britischen Zone neun Menschen in Internierungslagern, später reagierte man und die Zustände besserten sich. Bei trotzdem stattfindenden zahlreichen Fluchten der Inhaftierten, zum Beispiel nach Italien, war im Übrigen auch die katholische Kirche maßgeblich beteiligt.

Vortrag von Dr. Joachim Woock

Dr. Joachim Woock (Mitte) referierte über die Entnazifizierung im Nordkreis.

Die beschuldigten Funktionäre aus SS, SD, Gestapo und politischem Führerkorps wurden je nach Position in den Nazi-Strukturen und Schwere der Schuld in fünf verschiedene Kategorien eingeteilt, von I für Hauptschuldige bis V für Entlastete. Bemerkenswert ist, dass schon wenige Jahre später dieselben Beschuldigten in weit weniger brisante Kategorien eingeteilt wurden, einerseits durch die Umerziehung durch die Besatzer, andererseits schlicht aus Personalmangel in öffentlichen Institutionen. Auch deshalb griff man schon bald wieder auf ehemalige Nazis als Funktionäre der "neuen Demokratie" zurück.
Joachim Woock ging anschließend auf einige Persönlichkeiten ein, die für die Region Achim von besonderer Bedeutung waren. So stellte er die Lebens- und Karriereverläufe eines Fischerhuder Telegrafenmasten-Spezialisten, eines bekannten und traditionsreichen Achimer Geschäftsmannes sowie eines Achimer Landwirtes dar. Diese wiesen allesamt steile Karrieren in den Reichsstrukturen auf, als Funktionäre in der NSDAP, der SS oder anderen Organisationen. Später, nach Kriegsende, wurden jedoch auch sie sehr schnell entlastet und übten ihre Berufe weiter aus. Der Wiederaufbau der Infrastruktur und die Versorgung mit Lebensmitteln war für die Alliierten offenbar von höherer Priorität als die Bestrafung der Nazi-Funktionäre.
Abschließend diskutierte man mit den Besuchern auch über Zivilcourage in der heutigen Zeit und über die unterschiedlichen Sichtweisen über den damaligen Alltag von Zeitzeugen und heute jungen Menschen.

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