Aus dem Achimer Kreisblatt vom 10. Mai 2013:

Bauen gegen Wohnungsnot und stinkenden Ziegenbock
Ravens erinnert an "Achim in den 50er Jahren" / Arbeit in wachsenden Fabriken

ACHIM. "Es erforderte viel Mut, die Not und die Hoffnungslosigkeit nach 1945 zu überwinden", erinnerte sich Karl Ravens. 1927 in Achim geboren, erlebte der junge Mann hautnah mit, wie sich zu den 4.600 Einwohnern 1939 infolge des Zweiten Weltkriegs rund 3.000 Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene hinzu gesellten und eingegliedert werden mussten. "Dabei fehlte es an Wohnungen ebenso wie an Nahrungsmitteln." Dies schickte Ravens seinem Vortrag über "Achim in den 50er Jahren" voraus.
Der spätere Bundesbauminister sei "der beste Zeuge, den wir finden konnten", hatte Karlheinz Gerhold, Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Achim, den Redner angekündigt. Karl Ravens bestritt am Dienstagabend vor rund 20 Zuhörern im Hotel Gieschen den zweiten Teil in der vom lokalhistorischen Verein veranstalteten Reihe "Achim im vorigen Jahrhundert" und fesselte das Publikum vor allem dann, wenn er persönliche Erlebnisse aus jener Zeit zwischen Düsternis und Aufbruchstimmung zum Besten gab.
Das erst 1949 zur Stadt erhobene Achim habe vor allem unter der Wohnungsnot gelitten. Kostbares, rares Brenn- und Baumaterial sei damals vielfach getauscht worden. Der junge Ravens sah, wie der Bürgerpark im Umfeld des heutigen Polizeihauses abgeholzt wurde. Mit dem Bau einer "Selbsthilfesiedlung" auf dem dortigen Gelände habe der Rat ein "Signal" gesetzt und weitere neue Wohngebiete, wie etwa auf dem Mühlenfeld oder an der Borsteler und der Embser Landstraße, ausgewiesen.
Überhaupt seien die 50er Jahre in Achim vom Bauen geprägt gewesen, stellte Ravens fest. Denn für die wachsende Zahl der Einwohner hätten die Verantwortlichen mit Bürgermeister Friedrich Grothen und Stadtdirektor Adolf Heußmann an der Spitze auch die nötige Infrastruktur schaffen müssen. Als Meilenstein für das Gedeihen Achims und der damals noch selbstständigen Nachbarorte nannte der Referent die Wiederherstellung der im Krieg zerstörten Ueser Weserbrücke 1951.
Mehr als sechs Millionen DM habe die Stadt für Schulneubauten ausgegeben. So sei die Markt-Volksschule um eine Mittelschule am Paulsberg ergänzt und damit der "Grundstein für die heutige Schullandschaft gelegt" worden.

Karl Ravens

Zeitzeuge Karl Ravens referierte bei der Geschichtswerkstatt. Foto: Mix

Für 180.000 DM habe die Stadt in den Bierdener Dünen ein Grundstück erworben, um dort ein Krankenhaus errichten zu können. Entstanden seien in jenen Jahren auch das Kanalnetz, die katholische Kirche, der Parkfriedhof. "Und der Marktplatz wurde durch einen Brunnen und ein Wartehäuschen aufgewertet."
Viele Menschen hätten in den expandierenden Fabriken Desma, Lieken und Runken, im Bremer Borgward-Werk oder in der 1957 in Uesen eröffneten Bundeswehr-Kaserne Arbeit gefunden. Kleineren Achimer Firmen habe es allerdings häufig an Geld gemangelt, um die Beschäftigten zu bezahlen. "Auch ich verlor meinen Job in der Kfz-Werkstatt Stolte am Bahnhof und stand dann Schlange vor dem Arbeitsamt an der Georgstraße. Dort fühlte man sich regelrecht zur Schau gestellt", sagte Ravens, der bald als Lehrlingsausbilder bei Borgward tätig war, 1961 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde und damit seine große politische Laufbahn begann.
Wirtschaftlich ging es in den "50ern" allmählich bergauf. Auch die Schaufenster hätten sich "langsam wieder gefüllt". Ein beliebter Vergnügungsort sei der Tanzabend im Schützenhof gewesen. "Die happigen sechs Mark Eintritt bei 87 Pfennig Stundenlohn habe ich nie bereut", bekannte der 85-Jährige.
Achimer Kinder und Jugendliche hätten sich gern in der Flussbadeanstalt nahe dem Hirtenhaus getummelt. 1952 sei das Pfadfinderheim an der Breslauer Straße eingeweiht worden, zwei Jahre später das benachbarte Falkenheim, wo sich Ravens, seit 1950 Mitglied der SPD, gern aufhielt.
Und zum guten Schluss erzählte der Ex-Minister unter Brandt und Schmidt, dessen politischer Ziehvater der langjährige Bierdener Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Martin Brüns war, die zum Himmel stinkende Geschichte vom Ziegenbock. Laut einer Vorschrift habe jeder Ort über solch ein Geschöpf verfügen müssen. "Aber der bisherige Halter wollte den stark riechenden Bock nicht mehr behalten." Als sich endlich ein Interessent auf dem Mühlenfeld gemeldet habe, hätten die Anwohner dort einen "Riesenaufstand" gemacht. Doch schließlich sei das Tier hinter zwei Türen mit Geruchsschleusen und unter einem Walmdach mit hohem Schornstein gelandet. Karl Ravens unter Gelächter: "Der teuerste Ziegenbockstall, der je gebaut wurde."

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