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In der Stadt wurde die Energieversorgung modernisiert, die letzten Straßenzüge wurden an die Trinkwasserversorgung angeschlossen, das Stadtgas wurde durch das Erdgas ersetzt und die oberirdischen Strom- und Telefonleitungen unter die Erdoberfläche verbannt. Die beiden Achimer Lichtspieltheater Corso und Odeon erfreuten sich (noch) regen Zuspruchs, da auch das Fernsehen zu Beginn des Jahrzehnts noch lange nicht seinen Zenit erreicht hatte. Große Ereignisse hatte das Kino zur damaligen Zeit zu bieten: Es war die Zeit der Hollywood-Monumentalfilme wie Ben Hur, Spartacus etc., deren Spieldauer von mehr als drei Stunden den Kinobetreiber dazu veranlasste, in einer eigens eingerichteten Pause zur Stärkung des Publikums Schnittchen und Getränke zu reichen. Gerade die sog. Skandalfilme, wie 1960 Fellinis "La Dolce Vita" oder "Das Schweigen" von Ingmar Bergman 1963 entpuppten sich schnell als Publikumsmagneten. Auch die Jugend wollte natürlich nur zu gerne an diesen "zweifelhaften und verbotenen" Ereignissen teilhaben, wurde aber aufgrund der Einstufung solcher "Sittenfilme" "FSK ab 18 Jahre" in den wenigsten Fällen eingelassen. Politisch blieb alles beim alten, strammer Antikommunismus war angesagt, spätestens nachdem am 13. August 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde. Dieses Ereignis wurde in der Realschule am Paulsberg, die ich zu der Zeit besuchte, ausführlichst diskutiert und erörtert. Die Empörung über die Tat der Machthaber in der "sowjetischen Besatzungszone" (DDR durfte man damals um Gottes Willen nicht sagen) war in der Lehrerschaft groß, und wir damals 12 - 13-jährigen Schüler wurden natürlich auf diese Linie eingeschworen, insbesondere auch durch unseren damaligen Klassenlehrer Weblus, der auch Vorsitzender des "Kuratoriums unteilbares Deutschland" und der Fachmann für Wiedervereinigungsfragen in der Stadt war. (Das Kuratorium war ein Zusammenschluss von führenden Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, die sich für das Wachhalten des Bemühens um Wiedervereinigung - 'in Freiheit' - einsetzen wollten. Auf Vorschlag von Bundespräsident Heuss gab sich das Kuratorium den Namen 'Unteilbares Deutschland'. Es gründete Ortskuratorien, warb im Ausland für die Wiederherstellung der deutschen Einheit und versuchte auf privater wie öffentlicher Ebene, Brücken nach 'drüben' zu bauen und zu erhalten. Im Gedächtnis geblieben sind die alljährlichen Aufforderungen, zu Silvester Kerzen in die Fenster zu stellen, die zur Einheit mahnen sollten. Die Vergeblichkeit seiner von Antikommunismus geprägten Tätigkeit brachte dem Kuratorium Spott als Vertreter eines 'Unheilbaren Deutschlands' ein. Die Politik des Ausgleichs mit der DDR durch die sozialliberale Koalition entzog ihm seit 1969 zudem zunehmend den Boden. 1992 wurde es aufgelöst.) Es ist heutzutage fasst unvorstellbar, aber das Verlangen der florierenden Wirtschaft nach immer mehr Arbeitskräften konnte bald durch einheimische Fachkräfte nicht mehr befriedigt werden. So wurden z. B. für das Unternehmen DESMA die ersten "Gastarbeiter", wie man damals sagte, angeworben. Wenn ich mich recht erinnere, kamen diese nicht, wie sonst üblich, aus Italien sondern aus Jordanien. Auch die Bekleidungsfirma RUNKEN setzte bald Frauen und Mädchen aus der Türkei als Näherinnen ein. Irgendwelche Probleme mit der einheimischen Bevölkerung sind mir nicht erinnerlich. Die Berührungspunkte außerhalb des Arbeitsplatzes waren ohnehin nicht sehr groß. Das Freizeitverhalten der Bundesbürger begann sich ob des wachsenden Wohlstandes zu wandeln. In den fünfziger und auch noch in den frühen sechziger Jahren waren für Kinder und Jugendliche Verwandtenbesuche oder Zeltlager mit den Pfadfindern oder der Kirche am Plöner See oder in der näheren oder weiteren Umgebung angesagt. Die Anzahl der Mitschüler, die in den großen Ferien den Urlaub mit den Eltern im Ausland wie Österreich, Italien oder gar Mallorca verbrachten wuchs aber stetig. Mit den neuen, fremdartigen Eindrücken, die die Reisenden mit nach Hause brachten, kamen natürlich auch frische Impulse in die Köpfe der Menschen, die oft noch im spießigen Denken der fünfziger verharrten. Des weiteren kamen noch die vielfältigen Eindrücke, die das Fernsehen, es gab ab 1963 immerhin 3 Programme, in die Haushalte brachte, hinzu und verhalfen dem Bundesbürger zu weltumspannenden Eindrücken. Besonders beliebt waren hier die Sendungen von Thilo Koch und Werner Baecker, die beiden USA-Korrespondenten des Deutschen Fernsehens. Natürlich fehlten auch nicht die Stimmen, die vor einer "Amerikanisierung Deutschlands" oder gar dem "Untergang des christlichen Abendlandes" warnten, spätestens als die Beatwelle aus England ab 1963/64 auch Achim nicht ausließ. Diese Stimmen waren in der Regel die gleichen, ewig gestrigen, die einige Jahre zuvor vor dem Genuss der amerikanischen "Schund und Schmutz-Literatur", wie sie sagten, wie etwa "Micky Maus" warnten. Der in der Mittelschule tätige einzige Musiklehrer ließ es sich z.B. nicht nehmen, uns regelmäßig davon überzeugen zu wollen, dass wir ja alle "verjazzt" seien und die "amerikanischen Umerziehungsmethoden" bei uns wohl auf fruchtbaren Boden gefallen seien, da wir ja regelmäßig diesen "Niggerjazz" hören würden. Außerdem "sei es eine Schande, dass diese Juden so einen guten deutschen Menschen wie den Herrn Eichmann, der schließlich nur seine Pflicht getan habe, einfach aufhängen würden". Aus welcher "großen Zeit" diese Geisteshaltung immer noch stammte, mag der verehrte Leser sich wohl vorstellen. Wir Schüler machten uns über diese Redensarten eher lustig, als dass wir in eine Diskussion darüber eingetreten wären, mit diesem Herrn konnte man sowieso nicht diskutieren. Der größte Spaß entstand immer dann, wenn die Frage nach dem "besten Geiger der Welt" gestellt wurde. Er wollte dann den Namen "Wolfgang Schneiderhan" hören, wir versuchten ihn aber absichtlich von "Helmut Zacharias" zu überzeugen, wohl wissend, was für einen Ausbruch des Zorns und eine Art Veitstanz dieser Frevel erzeugte, bei dem das Wort "Kaffeehausgeiger" noch das harmloseste war. Wenn dann noch ein ganz kecker Mitschüler den Namen "Yehudi Menuhin" ins Spiel brachte, war der Rest der Musikstunde gelaufen, denn der war ja "ein ganz guter Geiger - aber schließlich ein Jud". Es handelt sich hier tatsächlich alles um Zitate aus Musikstunden an der Real-/Mittelschule Achim zwischen 1961 und 1966! Zur Ehrenrettung des Lehrerkollegiums möchte ich aber auch nicht verschweigen, dass sich insbesondere in Kreisen der jüngeren Lehrerschaft Widerstand regte, der wohl auch dann zur späteren Versetzung dieses "Herrn" führte. Es mutet dazu geradezu paradox an, dass einige Jahre später ein Lokführer, der es wagte, Mitglied der DKP zu sein, aus dem öffentlichen Dienst vertrieben wurde. Waren die ersten vier Jahre der Dekade noch durch eine Fortführung des Lebensstils der Fünfziger auf höherem Niveau geprägt, änderte sich doch ab 1965 das Leben und Zusammenleben stetig. Insbesondere die Jugend wandte sich mehr und mehr, viel mehr und nachhaltiger als in den "Rock'n'Roll -Jahren" der Fünfziger, einem eigenen Lebensstil zu. Allerdings war die Gesellschaft auf eine "Jugendwelle" nicht vorbereitet. Eine Kommerzialisierung der Bedürfnisse der Jugend (wie sie heute stattfindet) fand vorläufig, jedenfalls in Achim, nicht statt. Die "neuesten" Beatles- oder Stones-Platten gab es beim Musikhaus Wendt in der Obernstraße zu kaufen, wenn man denn das nötige Kleingeld (eine Single kostete 4,75 DM, eine LP 17,- DM) dafür hatte, meistens hatte man es nicht und außerdem waren die Platten auch schon fast wieder veraltet, wenn sie in Achim angeboten wurden. Also beschränkte man sich auf Tonbandaufnahmen vom Rundfunk, vor allem von BFBS, dessen Sender in der britischen Garnisonsstadt Verden stand und der mit den neuesten Hits aus England aufwarten konnte, da waren die Scheiben noch gar nicht in Deutschland erschienen, geschweige denn gab es sie in Achim zu kaufen. Auch modisch war man in Achim erst einmal auf verlorenem Posten, der Ausdruck "Boutique" war vielen überhaupt kaum geläufig und wenn doch, vermutete man eine solche allerhöchstens in der Carnaby Street in London oder in Paris. Bisher hatten Belange von 15-jährigen keine Rolle gespielt. Zwar hatten pubertierende Jugendliche zu jeder Zeit Auseinandersetzungen mit den Altvorderen auszufechten, doch gerade diese Mischung aus konservativem Denken und dem alleinigen Streben der Eltern nach materiellen Werten und dem Aufbegehren einer Generation der Nachkriegsgeborenen, die das verlogene und spießerhafte Duckmäusertum ihrer Vorfahren satt hatte, machten die Konflikte der Sechziger Jahre aus. Gerade der Beginn der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit prägte die Auseinandersetzungen. Die Eltern wollten vergessen, verdrängen, nicht wahr haben und ihre Ruhe haben. Auf einmal wurde politisiert, man las den "Spiegel" und den "Stern", es gab die "Konkret" und "Pardon". In Jugendgruppen wurden politische Diskussionen geführt. In den Räumen der Realschule wurden die "Mittwochsrunden" unter Leitung von Günther Weblus abgehalten. Diese Mittwochsrunde war ein Gesprächskreis für jedermann, insbesondere auch für Jugendliche, der durch die Volkshochschule unterstützt wurde. Die Themen waren regelmäßig politischer und gesellschaftlicher Natur. Fachleute und solche, die sich dafür hielten, aus Politik, Kultur und Gesellschaft hatten dort ihr Forum. Tabus gab es kaum, so wurden z.B. auch Vertreter der KPD und NPD eingeladen. Zu Zwischenfällen ist es meines Wissens niemals gekommen. Das war alles natürlich totales Neuland für alle Beteiligten, eine dermaßen starke Politisierung der Jugend hatte es bis dato im demokratischen Sinne sicher nicht gegeben. Im Alltag der Sechziger Jahre hatte man als Jugendlicher so seine Probleme mit Elternhaus und Schule. Die Mädels wurden von den Eltern aufgrund der Länge, oder eher Kürze der Röcke und der Dicke der aufgetragenen Schminke malträtiert, während die jungen Herren mit der Länge ihrer Haare nicht unerhebliche Probleme bekamen. Ebenso war ein ewiger Streitpunkt der Zeitpunkt des "Nachhausekommens" nach Tanzveranstaltungen. Um diesen andauernden Gängelungen wenigstens ein bisschen aus dem Wege gehen zu können, begann man sich von der elterlichen Wohnung abzusetzen. Man bevorzugte mehr das Zusammensein mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten. Aber in einer kleinen Stadt wie Achim waren die Möglichkeiten eher begrenzt. Die alten Rockerschuppen aus den fünfziger Jahren waren "mega-out" wie man heute sagen würde, blieb also noch die Eisdiele, damals noch gegenüber dem Marktplatz, sowie Treffs bei der Kirche, bei den Pfadfindern, aber auch im Falkenheim. Die Eisdiele hatte den Vorzug, bezahlbar zu sein sowie zentral gelegen und fast ganztägig geöffnet zu sein. Auch war die Musikbox nicht zu verachten, war sie doch mit durchaus akzeptabler Beatmusik bestückt. Nietenhosen, Lederjacken, Twist- und Shake-Hosen mit Schlag und Kappnaht, wo sonst die Bügelfalten den "anständigen Mann" auszeichneten, bereiteten ein Gefühl der "Stärke" und Gruppenzugehörigkeit. Dabei kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen, welchen manchmal vergeblichen Kampf es zuhause kostete, das begehrte Kleidungsstück auch zu bekommen. Manch einer wird sich noch erinnern, wie man von zuhause nur in weißem Hemd und Krawatte zum Tanztee in den Schützenhof gelassen wurde, um sich dort angekommen schnell und unauffällig auf der Toilette der peinlichsten Utensilien zu entledigen. Im Schützenhof fanden regelmäßig sonnabends und sonntags Tanzveranstaltungen mit Beatbands wie TOMCATS, SCREAMERS, JOPEE & his REDCAPS statt, aber auch bekanntere Namen wie RATTLES, LORDS, YANKEES und TONY SHERIDAN waren Gäste dort. Ein Highlight der besonderen Art in der Kleinstadt Achim der sechziger Jahre waren für uns die Filmaufnahmen einer britischen Filmgesellschaft an der Ueser Brücke im Sommer 1966. Dort wurden Aufnahmen für den Film "Wie ich den Krieg gewann" mit John Lennon, Michael Crawford, Karl Michael Vogler, Lee Montague, Till Kiwe u. a. gemacht. An der Brücke wurde der Rückzug der Wehrmacht über den Rhein zum Ende des 2. Weltkrieges gedreht und dafür brauchte man Komparsen, die Soldaten mimten. Was lag näher, als sich der Schule und beim Stadtjugendring am Orte mit den Schülern, die vom Alter und Größe einem Soldaten nahe kamen, zu bedienen. So wurden die Schüler meiner damaligen Klasse 10 sowie unsere Parallelklasse "dienstverpflichtet" zum Darstellen von Wehrmachtssoldaten. Auch unser Lehrer Weblus ließ es sich nicht nehmen, in eine Offiziersuniform aus dem Fundus der Filmleute zu schlüpfen und uns Jungs ein bisschen rumzukommandieren. |